Lorelei und Marianne: Ein Leben zwischen Deutschland und Frankreich, mit
fiktiven Briefen aus einer deutsch-französischen Familie, von den fünfziger
Jahren bis 2016. Diese Reportage erscheint parallel auf meiner Blog-Seite in Le Monde, wo die es die Französischen
Briefe gibt, siehe Links:
Vierter Teil:
Albi, den 12. Oktober 1971
Meine geliebte Schwester !
Danke für Deine Post ! Und Entschuldigung, dass ich
erst so spät antworte…Aber mit den vier Kindern ist mein Alltag mehr als
stressig geworden! Yvan ist ja kaum zu Hause, er kümmert sich mehr um seine Arbeit und um die Pferde als um die Kinder, und ich muss alleine schuften,
wie immer…
Weißt Du noch, liebste Elke, wie ich von meinem
zukünftigen „schicken“ Französischen Leben schwärmte und mir einbildete, dass
wir häufig ausgehen würden? Ich muss mich totlachen, wenn ich an meine alten
Briefe zurückdenke und diese Hoffnungen mit der Realität vergleiche…Seit Yvans
neuer festen Stelle in Albi sitze ich endgültig in Südfrankreich fest, weit von
unserem geliebten Deutschland, und auch weit vom kulturellen Leben einer
Großstadt…
Ich beneide Dich, dass Du so nah von Duisburg lebst; zwar
hast Du auch einen Franzosen geheiratet,
aber Du kannst wenigstens öfters unsere Eltern besuchen…Ich bin so froh, dass
Papu und Mutti diese wunderbare Idee hatten, ein Landhaus im selben Dorf zu
kaufen, wo Yvans Eltern auch dieses kleine Häuschen besaßen…
Ich hoffe, Ihr kommt auch bald zu Besuch, vielleicht nächsten Sommer? Du kannst Dir kaum vorstellen, wie schön es letzten Sommer war, als wir alle zusammen ein paar Wochen in Provinquière lebten: die Kinder rannten von einem Haus zum anderen, und es herrschte eine wunderbare Stimmung im Dorf!
Am Anfang stand nur eine Ruine... |
Ich hoffe, Ihr kommt auch bald zu Besuch, vielleicht nächsten Sommer? Du kannst Dir kaum vorstellen, wie schön es letzten Sommer war, als wir alle zusammen ein paar Wochen in Provinquière lebten: die Kinder rannten von einem Haus zum anderen, und es herrschte eine wunderbare Stimmung im Dorf!
Anneliese, Erich und Enkelin Sabine vor dem Haus in Provinquière |
Zwar war es manchmal komisch, mit den vielen kulturellen
Unterschieden, aber es ist uns trotzdem immer gelungen, eine Lösung zu finden,
als es Probleme gab; so hat meine Schwiegermutter gut verstanden, dass unsere
Eltern keine Schnecken essen wollten! Und Mutti hat aufgehört, darüber zu
meckern, dass es im Haus von Papi und Mamie kein Bad gab…
Seit Sabines Einschulung im „collège“ gibt es leider eine
neue Schwierigkeit: Obwohl sie jetzt gerade Deutsch als erste Fremdsprache
lernt, weigert sie sich jetzt, mit mir auf Deutsch zu reden…Dabei war sie doch
total zweisprachig…Weißt Du noch, wie sie mit kaum drei Jahren in beiden
Sprachen vor sich hingesungen hat? Ich glaube, sie wurde gehänselt, eine
Nachbarin hat mir erzählt, die anderen Kinder hätten sie sogar „Hitler“
genannt…
Ich lebe jetzt seit über zehn Jahre in Frankreich, merke
aber leider, dass es immer noch diese verachtungsvollen Blicke gibt, wenn man
manchen Leuten begegnet…Und diese Filme im Fernsehen, wie „La Grande
Vadrouille“…Immer wieder wird über den Krieg gesprochen…Dabei hat doch Willy
Brandt in Auschwitz gezeigt, dass wir Deutsche uns alle anklagten und bereuten,
was passiert war…Und wir, meine Elke, waren doch so klein und unschuldig…Übrigens
bin ich von Brandts Ostpolitik verblüfft! Habe ich Dir erzählt, dass Sabine
seit einigen Monaten eine Brieffreundin aus dem Harzgebirge hat? Ganz schön
mutig, die Leute in der DDR…Was sie alles durchmachen müssen…
Glaubst Du, dass wir uns Weihnachten in Duisburg treffen
könnten? Ich werde vielleicht alleine mit den Kindern kommen, das wird noch was
werden, eine ganze Nacht im „Capitole-Zug“ bis Paris, dann noch die Metro zum anderen Bahnhof, und das lange Warten an den Belgischen und Deutschen Grenzen…Aber die
Kinder schwärmen so verrückt von Weihnachten bei den Deutschen Großeltern…Morgen
werde ich versuchen, in Duisburg anzurufen, obwohl es immer so lange dauert,
bis man die Durchwahl bekommt, nachdem man der Telefonistin alles buchstabiert
hat: „D“ wie Désiré, „U“ wie Ursule, „I“ wie Irma…- und stell Dir vor, wenn ich
von Duisburg aus nach Albi anrufe, muss ich es anders fragen! Und zwar „D“ wie
Dora, „U“ wie Ulrich, „I“ wie Ida…!Gut, Schätzchen, das
nächste Mal bist Du dran, schreib mal wieder!
Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Eine „bise“ an
Deinen lieben Mann, sei fest umarmt von Deiner
Gesche. + Fam.
Erster Teil:
http://sabineaussenac.blog.lemonde.fr/2016/02/26/de-lorelei-a-marianne-duisbourg-le-18-juillet-1958/
Zweiter Teil:
Dritter Teil:
Fünfter Teil:
http://sabineaussenac.blog.lemonde.fr/2016/02/26/de-lorelei-a-marianne-duisbourg-le-22-fevrier-2016/
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