Freitag, 26. Februar 2016

Lorelei und Marianne: Albi, den 12.Oktober 1971


Lorelei und Marianne: Ein Leben zwischen Deutschland und Frankreich, mit fiktiven Briefen aus einer deutsch-französischen Familie, von den fünfziger Jahren bis 2016. Diese Reportage erscheint parallel auf meiner Blog-Seite in Le Monde, wo die es die Französischen Briefe gibt, siehe Links:

Vierter Teil:

Albi, den 12. Oktober 1971


Meine geliebte Schwester !


Danke für Deine Post ! Und Entschuldigung, dass ich erst so spät antworte…Aber mit den vier Kindern ist mein Alltag mehr als stressig geworden! Yvan ist ja kaum zu Hause, er kümmert sich mehr um seine Arbeit und um die Pferde als um die Kinder, und ich muss alleine schuften, wie immer…

Weißt Du noch, liebste Elke, wie ich von meinem zukünftigen „schicken“ Französischen Leben schwärmte und mir einbildete, dass wir häufig ausgehen würden? Ich muss mich totlachen, wenn ich an meine alten Briefe zurückdenke und diese Hoffnungen mit der Realität vergleiche…Seit Yvans neuer festen Stelle in Albi sitze ich endgültig in Südfrankreich fest, weit von unserem geliebten Deutschland, und auch weit vom kulturellen Leben einer Großstadt…

Ich beneide Dich, dass Du so nah von Duisburg lebst; zwar hast Du auch einen  Franzosen geheiratet, aber Du kannst wenigstens öfters unsere Eltern besuchen…Ich bin so froh, dass Papu und Mutti diese wunderbare Idee hatten, ein Landhaus im selben Dorf zu kaufen, wo Yvans Eltern auch dieses kleine Häuschen besaßen…
Am Anfang stand nur eine Ruine...

Ich hoffe, Ihr kommt auch bald zu Besuch, vielleicht nächsten Sommer? Du kannst Dir kaum vorstellen, wie schön es letzten Sommer war, als wir alle zusammen ein paar Wochen in Provinquière lebten: die Kinder rannten von einem Haus zum anderen, und es herrschte eine wunderbare Stimmung im Dorf!


Anneliese, Erich und Enkelin Sabine vor dem Haus in Provinquière

Zwar war es manchmal komisch, mit den vielen kulturellen Unterschieden, aber es ist uns trotzdem immer gelungen, eine Lösung zu finden, als es Probleme gab; so hat meine Schwiegermutter gut verstanden, dass unsere Eltern keine Schnecken essen wollten! Und Mutti hat aufgehört, darüber zu meckern, dass es im Haus von Papi und Mamie kein Bad gab…

Seit Sabines Einschulung im „collège“ gibt es leider eine neue Schwierigkeit: Obwohl sie jetzt gerade Deutsch als erste Fremdsprache lernt, weigert sie sich jetzt, mit mir auf Deutsch zu reden…Dabei war sie doch total zweisprachig…Weißt Du noch, wie sie mit kaum drei Jahren in beiden Sprachen vor sich hingesungen hat? Ich glaube, sie wurde gehänselt, eine Nachbarin hat mir erzählt, die anderen Kinder hätten sie sogar „Hitler“ genannt…

Ich lebe jetzt seit über zehn Jahre in Frankreich, merke aber leider, dass es immer noch diese verachtungsvollen Blicke gibt, wenn man manchen Leuten begegnet…Und diese Filme im Fernsehen, wie „La Grande Vadrouille“…Immer wieder wird über den Krieg gesprochen…Dabei hat doch Willy Brandt in Auschwitz gezeigt, dass wir Deutsche uns alle anklagten und bereuten, was passiert war…Und wir, meine Elke, waren doch so klein und unschuldig…Übrigens bin ich von Brandts Ostpolitik verblüfft! Habe ich Dir erzählt, dass Sabine seit einigen Monaten eine Brieffreundin aus dem Harzgebirge hat? Ganz schön mutig, die Leute in der DDR…Was sie alles durchmachen müssen…

Glaubst Du, dass wir uns Weihnachten in Duisburg treffen könnten? Ich werde vielleicht alleine mit den Kindern kommen, das wird noch was werden, eine ganze Nacht im „Capitole-Zug“ bis Paris, dann noch die Metro zum anderen Bahnhof, und das lange Warten an den Belgischen und Deutschen Grenzen…Aber die Kinder schwärmen so verrückt von Weihnachten bei den Deutschen Großeltern…Morgen werde ich versuchen, in Duisburg anzurufen, obwohl es immer so lange dauert, bis man die Durchwahl bekommt, nachdem man der Telefonistin alles buchstabiert hat: „D“ wie Désiré, „U“ wie Ursule, „I“ wie Irma…- und stell Dir vor, wenn ich von Duisburg aus nach Albi anrufe, muss ich es anders fragen! Und zwar „D“ wie Dora, „U“ wie Ulrich, „I“ wie Ida…!Gut, Schätzchen, das nächste Mal bist Du dran, schreib mal wieder!

Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Eine „bise“ an Deinen lieben Mann, sei fest umarmt von Deiner

Gesche. + Fam.

Erster Teil:
Zweiter Teil:
Dritter Teil:
Fünfter Teil:



Lorelei und Marianne: Castres, den 27. Juli 1959


Lorelei und Marianne: Ein Leben zwischen Deutschland und Frankreich, mit fiktiven Briefen aus einer deutsch-französischen Familie, von den fünfziger Jahren bis 2016. Diese Reportage erscheint parallel auf meiner Blog-Seite in Le Monde, wo die es die Französischen Briefe gibt, siehe Links:

Zweiter Teil:

Castres, den 27. Juli 1959



Meine lieben Eltern!


Wie freue ich mich, Euch bald wiederzusehen! Und dazu noch mit meinen geliebten Geschwistern…Es wird ganz sicher eine schöne Zeit werden, und ich bemühe mich, dass alles perfekt wird für unsere Hochzeit!

Nun ist es ja so weit, dass ich bald definitiv in Frankreich leben werde…Yvan weiß, dass er seine erste Stelle in Reims bekommen wird, wir planen schon unsere erste gemeinsame Einrichtung, und langsam wird mir klar, dass Frankreich meine zweite Heimat sein wird…Ob ich das verkraften werde? Hier ist ja alles so verschieden als bei uns…Und besonders hier, auf dem Land - Castres ist ja wirklich ein Nest! – ist alles so anders als in Duisburg…


Bild 2016


Ihr werdet schon staunen, wie die Leute hier noch leben…Bei meinen zukünftigen Schwiegereltern gibt es zum Beispiel kein Bad, und auch keine Toilette…Ja, stellt Euch vor, es ist wie bei uns im Westerwald, als wir im Krieg evakuiert waren, da war ja auch alles so mittelalterlich…Glaubt jetzt bitte nicht, dass Yvans Eltern arm sind, im Gegenteil, sie besitzen mehrere Häuser, die sie vermieten; nur ist unser moderne Fortschritt  hier noch nicht zu spüren! Yvans Mutter besitzt auch keinen Kühlschrank, und natürlich gibt es auch keinen Fernseher! Ich musste also lernen, wie man sich im Becken mit kaltem Wasser aus einem Eimer wäscht, und ich bin sicher, dass Ihr das auch total romantisch finden werdet!


Das Haus, 2016

Aber dafür lebt es sich gut und bunt, die Leute sind meistens fröhlich, man trinkt und singt viel, und immer, ja, fast immer scheint diese wunderbare Sonne, in welche ich mich bei unserem ersten Treffen in Sète regelrecht „verknallt“ hatte, wie in Yvan! Ach, die südfranzösische Sonne, und diese Farben auf den Märkten, und die Düfte in den Gärten, es ist einfach herrlich…

Natürlich mache ich mir trotzdem Gedanken…Der Krieg wird leider noch viel zu oft erwähnt, manche Nachbarn haben Yvans Vater gefragt, warum sein Sohn eine „Boche“ heiraten will, und das haben sie einfach so gesagt, als würde ich nichts verstehen…Ich habe auch Angst, unsere ganze Duisburger Stimmung zu vermissen, die Freunde, das Theater, die schönen, lustigen Momente, die Ihr immer für uns Kinder organisiert habt…Aber so ist ja immer, wenn man heiratet, nicht wahr?

Yvan hat mir versprochen, dass wir oft nach Deutschland fahren würden, er hat ja viele Ferien als Lehrer. Und er meinte auch, Reims sei eine interessante Großstadt; wir könnten auch sehr oft nach Paris fahren, wo er noch viele Freunde hat, die uns empfangen würden.

Nun bin ich wirklich gespannt, wie es sich als junge Deutsche im Frankreich der fünfziger Jahre fühlen wird…Ich würde gerne arbeiten, ich könnte ja Englisch- oder Deutschkurse geben, oder als gelernte Schneiderin arbeiten, aber Yvan meint, dass ich auch sehr gut zu Hause bleiben könnte, besonders, wenn wir Kinder bekommen…Vielleicht wollte er mich nur heiraten, um eine perfekte deutsche „Hausfrau“ zu haben, was meint Ihr? Auf jeden Fall träume ich von einem raffinierten Französischen Alltag, mit häufigen Theater- und Restaurantbesuchen…

Wir freuen uns alle auf den neunten August!

Seid herzlich umarmt, auch von Yvan,

Eure kleine Gesche.

Erster Teil:

Dritter Teil :

Vierter Teil :

Fünfter Teil :